Burgfrieden - Bulgariens Vier-Parteien-Koalition muss auf pro-russische Stimmung im Land eingehen

"Bulgarien gilt als das russophilste Land in der EU. Die Regierung hat den Krieg klar verurteilt, doch das Thema droht die Gesellschaft zu spalten." - Artikel von Dr. Boris Popivanov

Bulgarien gilt als der EU-Mitgliedstaat, der traditionell die stärksten Sympathien für Russland hegt. Diese sind historisch begründet – nicht nur durch die Tatsache, dass Russland einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft geleistet hat, sondern auch in Form einer gewissen Nostalgie für die Zeit des real existierenden Sozialismus, als die Rolle der Sowjetunion von vielen in Bulgarien als die eines Modernisierers wahrgenommen wurde. Neben der emotionalen gibt es auch eine wirtschaftliche Verbundenheit: Bulgarien ist in hohem Maße von russischen Energielieferungen abhängig. Die Nachricht vom russischen Einmarsch in die Ukraine war deshalb ein großer Schock für Bulgarien.

Seit Beginn der Invasion hat das Land sich absolut loyal gegenüber den europäischen und euro-atlantischen Partnern verhalten. Die Regierung in Sofia verurteilte den russischen Angriff umgehend. Die gemeinsame Linie wurde auch im Europäischen Rat und auf dem NATO-Gipfel uneingeschränkt unterstützt. Das Gleiche gilt für den Europarat und die OSZE. Bei der Sitzung der UN-Vollversammlung stimmte Bulgarien zusammen mit allen anderen EU-Mitgliedstaaten für eine Resolution zur Verurteilung Russlands. Zehn russische Diplomatinnen und Diplomaten wurden unter dem Vorwurf illegaler Aktivitäten des Land verwiesen. Die russische Botschafterin Eleonora Mitrofanowa machte ihrerseits anmaßende Bemerkungen über das Verhalten Bulgariens, was wiederum das bulgarische Außenministerium veranlasste, richtigstellende Erklärungen seitens der Botschafterin zu fordern. Letztendlich wurde Bulgarien zusammen mit anderen EU-Mitgliedern in Moskaus Liste der „feindlichen Staaten“ aufgenommen.Die gezeigte Einstimmigkeit zwischen Bulgarien und seinen Partnern kann nicht über die innenpolitischen Spannungen hinwegtäuschen.

Diese gezeigte Einstimmigkeit zwischen Bulgarien und seinen westlichen Partnern kann jedoch nicht über die innenpolitischen Spannungen hinwegtäuschen. Das Land wird derzeit von einer ungewöhnlichen Vier-Parteien-Koalition regiert. Einer der Koalitionspartner ist die Bulgarische Sozialistische Partei, die Nachfolgerin der ehemaligen Kommunistischen Partei. Angesichts ihrer russophilen Wählerschaft hat sich die Partei gegen weitere Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Im Parlament gibt es darüber hinaus eine offen pro-russische Partei, Wasraschdane (Wiedergeburt). Diese hat beispielsweise Proteste gegen eine potenzielle NATO-Intervention im russisch-ukrainischen Konflikt initiiert.

Ministerpräsident Kiril Petkow zeigt sich derweil als entschiedener und konsequenter Gegner von Putins Krieg. Kürzlich nannte er Russland – wahrlich nicht sonderlich diplomatisch – eine „Tankstelle mit Raketen“. Petkow ging sogar so weit, Verteidigungsminister Stefan Janew wegen dessen öffentlichen Aussagen zu entlassen. Janew hatte die Entwicklungen in der Ukraine nicht als „Krieg“ bezeichnet, sondern den Putin‘schen Begriff einer russischen „Spezialoperation“ verwendet. Die Entlassung eines Verteidigungsministers in Kriegszeiten war unter den NATO-Mitgliedstaaten einmalig und hat verständlicherweise unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Der Präsident des Landes Rumen Radew gibt sich weitaus zurückhaltender als Ministerpräsident Petkow. So schlug Radew etwa vor, dass Bulgarien als Gastgeber für Friedensgespräche zwischen Moskau und Kiew fungieren könne.

Einflussreiche Kreise in der bulgarischen politischen Elite sind sich der pro-russischen Stimmungen in der Gesellschaft bewusst und wollen sich nicht allzu offen dagegenstellen.

Diese Nuancen ändern die bulgarische Position in dem Konflikt nicht wesentlich. Sie deuten aber darauf hin, dass sich einflussreiche Kreise in der bulgarischen politischen Elite der pro-russischen Stimmungen in der Gesellschaft bewusst sind und sich daher nicht allzu offen dagegenstellen wollen. Die öffentliche Debatte gestaltet sich somit interessant: Einerseits gibt es keine wirkliche Kontroverse darüber, ob Russlands Aggression gegen die Ukraine zu missbilligen ist oder nicht. Die bulgarischen Institutionen sind sich einig, dass Russland verurteilt werden muss. Andererseits hat sich der Streit gewissermaßen verlagert – nämlich auf die Frage, ob der Ukraine militärische Unterstützung gewährt werden sollte, in Form von Flugzeugen oder Raketenabwehrsystemen. Auf diese Weise kann die Unterstützung der Ukraine als indirektes Bestreben dargestellt werden, Bulgarien in den Krieg verwickeln zu wollen. Umgekehrt können Friedensforderungen als komplett neutrale Haltung interpretiert werden. Der Besuch von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Bulgarien am 18. und 19. März bot einen Anlass, derartige Sichtweisen und Ängste zu instrumentalisieren: Spekulationen, dass die USA Bulgarien dazu drängen würden, in der Ukraine militärisch zu intervenieren, haben Ängste in der Öffentlichkeit verstärkt.

Diese Verschiebung in der öffentlichen Debatte zeigt sich inzwischen auch in der allgemeinen Wahrnehmung und Einschätzung des Kriegs: Eine Mitte März vom Meinungsforschungsinstitut Trend durchgeführte Umfrage ergab, dass 16 Prozent der Bulgarinnen und Bulgaren den Einmarsch Russlands in die Ukraine als gerechtfertigt ansehen, während 61 Prozent dies nicht tun. Anders sieht es jedoch bei der Frage aus, ob die NATO auf Seiten der Ukraine in den Krieg eingreifen sollte. 77 Prozent der Befragten sprachen sich gegen eine Intervention aus, nur neun Prozent dafür.

Die Regierung hat die Angewohnheit, wirtschaftliche Misserfolge mit externen Faktoren zu erklären, in diesem Fall mit den kriegerischen Auseinandersetzungen.

Hinzu kommt, dass Bulgarien das ärmste Land der EU ist und dass Sorgen über negative wirtschaftliche Folgen des Krieges – Inflation, Verknappung von Grundgütern, das Risiko von Energiekrisen – in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Leider hat die bulgarische Regierung die Angewohnheit, wirtschaftliche Misserfolge des Landes mit externen Faktoren zu erklären – in diesem Fall mit den kriegerischen Auseinandersetzungen. So wird die Angst vor Krieg zu einem zentralen Aspekt der gesellschaftlichen Gefühlslage in Bulgarien. Vorbehalte gegen Bulgariens Unterstützung der Ukraine könnten daher zunehmen. Und wenn die Debatte „für“ oder „gegen“ eine militärische Unterstützung der Ukraine weiter an Fahrt gewinnt und prominent geführt wird, ist auch die Gefahr einer innenpolitischen Krise nicht zu unterschätzen.

Quelle: IPG. 23.03.2022. Boris Popivanov: Burgfrieden. Aus dem Englischen von Tim Steins. https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/burgfrieden-5821/

Dr. Boris Popivanov ist Assistenzprofessor in Politikwissenschaften an der Universität St. Kliment Ohridski  in Sofia, Bulgarien.

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